Uchi Deshi … oder der Mensch jenseits der Verspannung

Sarah

Gedanken zum und nach dem Aufenthalt als Uchi Deshi

Schon die Anfahrt nach Schwickartshausen stimmt auf die Tage als Uchi Deshi dort ein. Die immer kleiner werdenden und weiter auseinanderliegenden Ortschaften der Wetterau vermitteln das Gefühl von Ruhe und Abgeschiedenheit von der trubeligen Alltagswelt. Es ist als würden die ewig nach außen gerichteten Antennen am ganzen Körper sich langsam in sich selbst zurückziehen, um sich schließlich - endlich - nach innen zu richten. Man beginnt, sich selbst wieder zu spüren, man atmet aus, man konzentriert sich, besinnt sich. Dies alles ist nicht nur sehr wohltuend, sondern auch unerlässlich für die kommenden Tage mit vielen großartigen und lehrreichen Trainings mit Ute oder Mark. Es fordert viel Konzentration, Kraft und Selbstreflexion. Manchmal mehr als ich das Gefühl habe, leisten zu können. Ich versuche das zu akzeptieren, es einfach geschehen zu lassen. Aber es gelingt mir nicht immer.

Man kommt nicht umhin, sich immer wieder aufs Neue wie ein Neuling auf der Matte zu fühlen. Sascha erklärt mir schließlich, dass eine der großen Kalligraphien, die im Dojo hängen, "Anfängergeist" bedeutet. Ist es also nicht eine Last, sondern ein Glück, dass dieses Gefühl immer wieder auftaucht, die Neugierde aufrecht erhält, die zugleich den Antrieb liefert, die Techniken wieder und wieder zu versuchen, ohne ihrer müde zu werden? Dass es jedes Mal eine neue kleine Bewegung, ein neues Detail finden lässt? Dass es uns auf der Straße in Situationen mit welchen wir nicht rechnen, angemessen reagieren lässt, weil wir unvoreingenommen und intuitiv handeln, und dabei doch unbewusst aus dem Eingeübten schöpfen? Die große Aufgabe liegt darin, den Anfängergeist als etwas Hohes und Kostbares anzusehen, statt ihn als Sisyphos' Stein zu betrachten.

Ist es nicht paradox, dass wir nun mühsam etwas wieder erlernen müssen, was jedes Kind beim ersten Schritt, ersten Blick auf das eigene Spiegelbild, beim ersten Erfühlen von Wasser auf natürliche Art empfindet?

Andreas

Ein besonderes Ereignis

... für unseren gemeinsamen Uchi-Deshi-Aufenthalt auszuwählen, um dieses hier im Blog darzustellen, fällt nicht leicht. Denn der ganze Besuch in der Welt der Disziplin, des ehrlichen Trainings und immer wieder neu spontanen Bemühens um Vollkommenheit in den einfachen Dingen ist mir persönlich wie eine einzige Kette von besonderen, weil bedeutungs-vollen Ereignissen erschienen.

Warum also nicht etwas scheinbar Alltägliches spiegeln und daran reflektieren, was für mich das Besondere am Uchi-Deshi-Training war?

Und was könnte in unserer heutigen Gesellschaft alltäglicher sein, als der Blick aufs Smartphone, der Umgang damit und der Drang, es öffentlich zu benutzen. Wie ein Relikt aus technischer Zeit kam es mir vor, wenn in dieser Enklave der Ruhe und der Innerlichkeit einer der kleinen Taschencomputer in mein Blickfeld geriet, den wir alle streicheln, betatschen und liebkosen.

Dies geschah insbesondere dann, als einige von uns ihre Lieben daheim von sicherer Ankunft, inneren Welten und Reflexionen auf die Zukunft berichten wollten, sei es nur, wann mit ihrer Rückkehr zu rechnen sei. Mit diesem Wunderkasten ausgestattet, begaben sich Aikidoka auf einen kleinen Felsen, der ganz hoch oben im Dorf gelegen war, überblickten die Straße von einer nahe gelegenen Bank mit ausreichendem Handyempfang  und wurden sogar zum Kunstwerk, wenn sie sich stilsicher bei einem Komposthaufen zwecks Ferngespräch auf einen kleinen Baumstumpf stellten und gleich einer neuen Freiheitsstatue hocherhobenen Hauptes ihre Fackel der Aufmerksamkeit in den Äther tauchten. Grund für diese Verrenkungen mit Schauwert war natürlich die Liebe. Und abgesehen davon auch das Bedürfnis, an einem Ort der Abgeschiedenheit,  an dem man der Zivilisation durch schlechten Handyempfang zu entkommen trachten konnte, die eigene Einsamkeit etwas weniger zu spüren.

Beides zu fühlen, Liebe und Einsamkeit für mich in Einklang zu bringen, war ich persönlich als Uchi-Deshi aufgebrochen. Schaffen wir es, immer wieder von neuem eine Harmonie in unser Leben zu bringen, sich unserer Schwächen bewusster zu werden und sie anzunehmen - wirklich uns in unserem Empfinden zu vertrauen, ohne uns darin zu verlieren - verstehen wir den Teil der Wahrheit, der uns beschieden ist. Uchi-Deshi bedeutete für mich, meine Liebe und meine Einsamkeit zu verbinden. Nicht, eine neue Liebe zur Einsamkeit zu konstituieren, die nicht mehr zu mir passte, sondern zu verstehen, dass ich mich auch in meiner Einsamkeit lieben und so anderen die Gelegenheit geben kann, dies ebenfalls zu tun.

Deshalb habe ich mein Smartphone zuhause gelassen und konnte so verstehen, welche Bedeutung die Kommunikation mit anderen selbst in einer Oase der Ruhe für viele von uns hatte, wie wichtig es für sie war, gehört zu werden in einer neuen Welt, die erst graduell zu ihrer eigenen werden konnte. Jeder von uns hatte eine persönliche Uchi-Deshi-Reise zu absolvieren und auf den Stationen dieser Erkenntnis wollten sie ihre Lieben bei sich haben, sei es auch nur für einen kurzen Moment.

Auch dieser Moment, besonders dieser Moment, half mir zu verstehen, worin Schritte meiner eigenen Reise bestehen könnten.

Sascha

Zehnter Mai 2015, nur noch knapp eine Woche bis zum Uchi Deshi. Isomatte, Schlafsack, Socken, T-Shirts, Gi, Hakama und und und.... liegen bereit. Bereit, bereit sein. Wofür nochmal? Ach Ja, Uchi Deshi. Die Erwartungen steigen mit der Anspannung, etwas Neues zu erleben, Neues zu lernen, zu erfahren. Tag der Abfahrt, die Taschen sind gepackt, viel wichtiger noch, die Filter im Kopf sind auf Aus und die „Antennen“ auf Empfang (Ukeru) gestellt. Was habe Ich mitgenommen? Kimochi. Was haben Wir dort gelassen? Kimochi, das ist ein Gefühl/ Gespür für das uns immer umgebende Universum und allem darin. Mit Kimochi fängt Awase an, setzt sich fort in einem fast ewigen Moment und endet mit der anhaltenden Expansion des Universums, also nie. Das hört sich seltsam an, aber das ist meine durch und durch subjektive Erfahrung während der drei Tage Uchi Deshi. Im Ergebniss habe ich gelernt mit dem Lernen nicht aufzuhören und den „Anfängergeist“ am Leben zu erhalten und weiterzugeben.

„Das Wasser hat Quellen,
der Baum hat Wurzeln.“

Ferdinand

Unser Ushi Dechi war grandios, voller Harmonie und innerer gemeinsamer Überzeugung. Ich beobachtete die Bewegungen der Sempais, verfolgte alles gespannt und nahm alles auf wie ein ausgetrockneter Schwamm. Es gab sehr viel Input, viele Puzzleteile, die richtig zusammengesetzt werden wollten, als Schwamm war ich danach sehr, sehr nass und schwer.

Ich habe viel gelernt, vieles, was mich auf dem Weg zu (m)einem Aikidoverständnis ein großes Stück weitergebracht hat. Während des Uchi Deshis war das alles klar, alles gesegnet von dem Geist gemeinsamen intensiven Trainierens und Ki-Austausches. Eine Erfahrung, die ich nicht missen möchte, die mir zeigte, dass ich auf einem Weg bin, der mir entspricht und mit dem ich mich voll und ganz identifizieren kann. Während der Uchi Deshi - Zeit war das alles so, es war einfach, einfach so.

Wieder zu Hause, noch stolz und auch ehrfürchtig ob der vielfältigen Erfahrung, zog sich ein Schleier vor diese Klarheit, mein Geist wurde trübe. Der Versuch alles zu konservieren, das Gelernte im Kopf zu sortieren und so bald wie möglich im Training anzuwenden und üben zu können, zwang alles in die Knie, was ich bis dahin empfand. War vorher zielgerichtetes Kokyu, konsequentes Von-der-Linie-Gehen, war ich danach völlig in der Defensive: Jeder Eingang, jeder Handgriff, jede Drehung erschien vor meinem geistigen Auge als unsicher, ungelenk, keine Linie mehr erkennbar.

Ich bin noch immer dabei, das Uchi Deshi zu verarbeiten, komme langsam zu dem Schluss, dass ich mich zu sehr anstrengte, „richtiges“ Aikido machen zu wollen: Zu viel Kopf, Aikido kommt aus der Hüfte!

Dabei fühle ich mich wie beim Ukemi zu einem geschmeidigen Iriminage. Ein zielgerichteter Angriff, ein Von-der-Linie-gerissen-werden, dann eine Windung mit einer Spiralbewegung nach unten, um dann wieder aufgerichtet zu werden. In der Horizontalen schwebt man kurz, um dann herzhaft wieder auf der Erde zu landen (Demut, nicht Verzagtheit).

Onegaishimasu

Stefan

Im Anschluss an einen früheren Uchi Deshi - Aufenthalt in unserem „Hombu“ Dojo habe ich folgende Gedanken festgehalten:

Das Aufwachen: Ich öffne die Augen und als Erstes erblicke ich Fotografien meiner Lehrer.
Der Tag: Ein Wandel zwischen Training und fließendem Sein.
Der Abend: Der Ausklang eines Tages, an dem ich mich wieder selbst besuchen durfte.

Diesmal aber … wie wird es jetzt werden?

Ich hatte Vorstellungen, doch zugleich wollte ich selbst frei sein.
Ich wollte eine Struktur vorgeben, doch zugleich keine Enge erzeugen.
Ich wollte ein Vorbild sein … wollte ich das wirklich?

Den „Do“ aus diesem multiplen Dilemma wies mir der lebendige Geist des Dojos.

Ich wurde gefesselt und verführt. Gefesselt durch „Ki“ und verführt durch „Ai“.
Und Mark Sensei sagte folgende Worte zu uns: „Wir sind Wesen jenseits der Verspannung“.

Wenn ich nun an das Erlebte zurückdenke, weiß ich deutlich, was ich empfangen habe:

Ich war frei, umgeben von anderen befreiten Individuen in einer freiwilligen Struktur der Disziplin und Arbeit, wo wir alle füreinander Vorbilder waren, vereint in einem unbeschreiblichen Gefühl des Vertrauens ineinander, in das Dojo, in Aikido, in unsere Senseis ... und schließlich in uns selbst.

Das Gewonnene währt in uns dies- und jenseits aller Verspannung ewig.